Die Familie Erdheim kam aus einem kleinen Stetl in Galizien, dem kleinsten und ärmsten Kronland der Monarchie. Ende der 1860er-Jahre zog Moses Hersch Erdheim nach Borysław, wo es Erdöl gab. Es war ein kleines ruthenisches Dorf (ruthenisch: lateinisch für ukrainisch, alte Bezeichnung), in dem man im 19. Jahrhundert Erdöl entdeckt hatte, was zu einer ausgedehnten Industrie und großem Reichtum, aber auch zu brutaler Ausbeutung führte. Moses Hersch und seine Frau Esther hatten fünf Söhne: Sische, Osias, Jakob, Abe und Pinkas, alttestamentarische Namen. Auf dem Weg zur Assimilation nahmen viele Juden deutsche Namen an, wobei jeweils der erste Buchstabe des ursprünglichen Namens beibehalten wurde. So machten es auch die Erdheim-Brüder. Sische (später Sigmund) und Jakob studierten in Wien Medizin, Pinkas (später Peter) studierte Jus. Nach dem Studium lebte er als Advokat in Zabłatow (Galizien). In den 1890er-Jahren zog auch Osias (später Oskar) nach Wien und baute einen Engroshandel auf, den er bis zum Anschluss 1938 betrieb. Sigmund und Oskar heirateten nichtjüdische Frauen, wobei sich nach dem Anschluss herausstellte, dass auch Sophie, Oskars Frau, keine reine Arierin war, was allerdings keine weiteren Konsequenzen hatte. (Die Rassengesetze waren ein hochkomplziertes, ausgeklügeltes System, wobei es bis zum Schluss keine eindeutigen Gesetze zur Einordnung von "Mischlingen" und den Umgang mit ihnen gab). Nach dem Tod seiner Frau 1942 musste Oskar ins Ghetto im 2. Bezirk ziehen und starb im Juni 1945 an den Folgen der dortigen Lebensbedingungen.
Jakob, im Alter von 5 Jahren an Hodentuberkulose erkrankt, wurde ein bedeutender Pathologe, der einige Krankheiten entdeckte und vielfach geehrt wurde. Im Krankenhaus Hietzing gibt es ein Jakob-Erdheim-Institut.
Peter ging nach seinem Jusstudium zurück nach Galzien und ließ sich als Advokat in Zabłatow nieder. 1915 wurde er als Jurist nach Wien abkommandiert. Nach dem Zusammenbruch der Monarchie entschied er sich für die polnische Staatsbürgerschaft und lebte mit seiner Familie wieder in Zabłatow. Mit seiner Frau Tony gelang ihm die Flucht aus dem Ghetto und sie überlebten unter falschem Namen.
Tea, die Tochter von Oskar und Sophie, studierte Medizin und begann mit der Ausbildung zur Psychoanalytikerin, verlor allerdings aufgrund der Rassengesetze ihre Stelle im Maria-Theresien-Schlössel und musste auch die Ausbildung abbrechen. Laurenz Genner, seit 1934 Teas Lebensgefährte, war Sozialdemokratischer Nationalrat, jedoch ab 1934 in der sogenannten „Systemzeit“ unter Dollfuß und später unter Schuschnigg arbeitslos. Nach der Machtergreifung wirkte er im Widerstand und trat der illegalen KPÖ bei. Am 17. November 1938 wurde er von der Gestapo verhaftet und war 1 1/2 Jahre in Haft, die er wegen schwerer Tuberkulose im Inquisitenspital verbrachte.
1941 wurde Maria, Teas und Laurenz' erste Tochter, geboren, Tea durfte als Mischling 1. Grades nicht arbeiten, wurde aber aufgrund des Mangels an Ärzten 1944 kriegsdienstverpflichtet. Laurenz Genner setze nach seiner Entlassung den Kampf gegen die Nationalsozialisten fort, 1942 zog er in die Höhnegasse, wo er sich aber nur sporadisch aufhielt, um nicht noch einmal von der Gestapo erwischt zu werden. Am 22. August 1944 wurde das Haus von der Gastapo umstellt, Tea gab Laurenz Luminal, was zur Folge hatte, dass er auf der Gestapo in Ohnmacht fiel. Im Glauben, dass er es nicht überleben werde, entließ ihn die Gestapo nach Hause. Laurenz überlebt jedoch und floh mit Tea und dem Kind nach Niederösterreich, wo sie bei Bauern Unterschlupf fanden. In der provisorischen Regierung von April bis zu den ersten Wahlen im November 1945 unter Karl Renner war Laurenz Unterstaatssekretär der KPÖ, später Stellvertretender Niederösterreichischer Landeshauptmann und von 1945 bis 1954 niederösterreichischer Landesrat.
Im August 1945 heirateten Lenz und Tea, was wegen der Rassengesetze davor nicht möglich gewesen war, im Oktober 1945 wurde ihre zweite Tochter Claudia geboren. 1947 verließ Laurenz Genner die Familie.
Quellen:
Claudia Erdheim, Längst nicht mehr koscher, Czernin 2006
Bist du wahnsinnig geworden? 2. Auflage, Czernin 2018
www.erdheim.at
Michael Genner, Mein Vater Laurenz Genner, Europaverlag 1979
OSKAR OSIAS ERDHEIM
1871 - 1945
DER ZWEITE VON FÜNF BRÜDERN, KAUFMANN, Z0G ENDE DES 19. JAHRHUNDERTS VON GALIZIEN NACH WIEN UND ERWARB DIESES HAUS 1908 FÜR SICH UND SEINE FAMILIE. ES WURDE ZUFLUCHTS- UND WOHNORT FÜR VIELE VERWANDTE UND NACHFAHREN. NACH DEM TOD SEINER FRAU SOPHIE MUSSTE ER IN DAS WIENER GHETTO ZIEHEN UND STARB KURZ NACH KRIEGSENDE.
MOSES HERSCH ERDHEIM
1842 - 1921
SEIN VATER, EIN UNTERNEHMER, FLOH IM ERSTEN WELTKRIEG NACH WIEN UND WOHNTE HIER VON 1917 BIS ZU SEINEM TOD.
JAKOB ERDHEIM
1874 - 1937
DER MITTLERE DER BRÜDER, EIN BEDEUTENDER PATHOLOGE, LEBTE HIER VON 1925 BIS 1937.
PETER PINKAS ERDHEIM
1877 - 1946
DER JÜNGSTE BRUDER, JURIST, WURDE IM ERSTEN WELTKRIEG AUS GALIZIEN NACH WIEN ABKOMMANDIERT UND WOHNTE EIN JAHR MIT SEINER FAMILIE IN DIESEM HAUS. ER ÜBERLEBTE MIT SEINER FRAU TONY DEN HOLOCAUST UNTER FALSCHEM NAMEN IM „DISTRIKT GALIZIEN".
TEA ERDHEIM
1906 - 1977
TOCHTER VON OSKAR UND SOPHIE, ÄRZTIN UND PSYCHOANALYTIKERIN, WOHNTE HIER VON 1908 BIS ZU IHREM TOD. DAS HAUS WAR ZEITWEISE WOHNORT FÜR IHREN LEBENSGEFÄHRTEN, DEN VON DER GESTAPO VERFOLGTEN WIDERSTANDSKÄMPFER
LAURENZ GENNER
1894 - 1962
1945 UNTERSTAATSSEKRETÄR IN DER PROVISORISCHEN REGIERUNG UNTER KARL RENNER.
DIE BEIDEN GEMEINSAMEN TÖCHTER MARIA UND CLAUDIA WUCHSEN IN DIESEM HAUS AUF
Enthüllung der Gedenktafel am Haus 1180, Höhnegasse 19, mit der Bezirksvorsteherin Sylvia Nossek.
Gedacht wird der jüdischen Familie Erdheim und des Widerstandskämpfers Laurenz Genner.
Begleitende Worte: Claudia Erdheim und Michael Genner.
Es singt: Inge Maux.
Anschließend Wein und Sekt im Hof.
Termin: Mittwoch, 15. Mai 2024.
Beginn: 16 Uhr.
Bezirksvorsteherin Mag. Sylvia Nossek und Claudia Erdheim
Claudia Erdheim und Michael Genner
Michael Genner und Claudia Erdheim
Inge Maux