Nitschewo

Donnerstag, 18. November 2010

 

"Nitschewo" - Claudia Erdheim zum 65. Geburtstag

von Christa Nebenführ (Podium 157/158, 2010)

 

Selten habe ich so lange über den passenden Einstieg für einen Text gegrübelt wie diesmal. Fange ich beim literarischen Debüt an? Bei der Biographie? Oder bei der persönlichen Bekanntschaft, die mir viele Einblicke in literarische und gesellschaftspolitische, ästhetische und betriebsimmanente Zusammenhänge gewährt hat. Aber wahrscheinlich bin ich mit diesem Eingeständnis schon mittendrin: Claudia Erdheims Metier ist die literarische Kritik. Keinesfalls in Form von Weltschmerz und Klagelied (solche Zumutungen würde sie entrüstet zurückweisen), sondern der von scharfer Beobachtung und lakonischer Ironie. Keine Schnörkel, kein Kitsch, um Gottes Willen keine salbungsvollen Tiraden. Die einzige Verfremdung der gnadenlosen Realität, die sie sich zugesteht, ist der Witz. Die Philosophin, die viele Jahre an den Universitäten Kiel, Hamburg und Wien Vorlesungen über Logik gehalten hat, entlarvt die Inkohärenz der Wirklichkeit mit schallendem Gelächter. Das gilt übrigens auch für die private Claudia: Was haben wir gelacht! Oft war es irgendeine ungewollt doppeldeutige Formulierung, deren gemeinsames Verständnis sie bestätigte, indem sie sie mit dem vertrauten Lachen quittierte. Darüber hinaus sollte sie mir zu einer treuen Freundin werden, die mir in einer Zeit großer Belastungen geduldig zuhörte und niemals der Versuchung erlag, meine Erlebnisse zu bagatellisieren.

 

Zum ersten Mal bin ich ihr bei einem Treffen slowakischer und österreichischer Autorinnen und Autoren in Budmerice begegnet, das Zdenka Becker 1993 für das Podium organisiert hatte. Das war allerdings kein Zufall. In meiner Herkunftsfamilie war, in krassem Gegensatz zu Claudias, alles was mit Psychoanalyse zu tun hat, mit großen Ressentiments belegt. Umso größer war daher mein Wissensdurst auf diesem Gebiet. Und so las ich nach Marie Cardenals „Schattenmund“ Claudia Erdheims „Herzbrüche“. Und als ich bei der Einladung zum erwähnten Treffen ihren Namen auf der Teilnehmerliste vorfand, wusste ich: Da muss ich hin. Die muss ich kennen lernen. Damals begannen die gemeinsamen Lachsalven, die meine Erwartungen nach der Lektüre der „Herzbrüche“ bestätigten: Einer Schriftstellerin zu begegnen, die nichts verschont, auch sich selbst nicht. Das ist eine der Weisheiten, und das ist jetzt keinesfalls ironisch gemeint, die ich ihr verdanke: dass literarisches Schreiben nichts für Angsthasen ist. „Ich male nach der Wirklichkeit“ schrieb sie frei nach Karl Kraus in einem ihrer ersten Bücher und ich war verblüfft, dass das jemand so schonungslos ausspricht. Mittlerweile bin ich überzeugt, und nicht zuletzt durch die vielen Gespräche mit Claudia, dass der Weichzeichner auf Kosten von Originalität und Qualität geht.

 

Vor den „Herzbrüchen“, in denen eine mit allen Wassern der Psychoanalyse gewaschene Analysandin im inneren Monolog die eigene Analyse zerpflückt, hatte Claudia Erdheim mit „Bist du wahnsinnig geworden?“ debütiert. Die Psychoanalytikerin und Mitbegründerin der Ethnopsychoanalyse Goldy Parin-Matthéy charakterisiert Erdheims Erzählverfahren treffend mit den Worten, dass sie in diesem Roman einer aufreibenden Mutter-Tochter-Beziehung „im Leser durch Ersparung des Aufwandes von Mitleiden Komik erzeugt.“

 

Claudia Erdheim wurde wenige Monate nach Kriegsende am 6. Oktober 1945 als zweite Tochter einer der ersten Psychoanalytikerinnen Wiens, Tea Erdheim, die großbürgerlich-jüdischer Herkunft war, und des sozialistischen und später kommunistischen Widerstandskämpfers Laurenz Genner geboren. „Zuerst haben meine Eltern wegen des Standesunterschiedes nicht heiraten können, später wegen der Rassegesetze und als es dann endlich möglich war, ist die Ehe bald gescheitert.“ Der Schutzumschlag ihres ersten Romans zeigt im Hintergrund, durch Überbelichtung zum Ornament verdichtet, das Chaos im mütterlichen Haushalt. Den Kontakt zu Claudias Vater hat Tea Erdheim nach der Trennung im Jahr 1947 gänzlich abgebrochen, sodass sich die Tochter erst mit der Recherche zu ihrem bislang letzten Roman „Längst nicht mehr koscher“ der Vaterfigur nähern und ein präziseres Bild von den familiär-gesellschaftlichen Verstrickungen, die ihre Kindheit prägten, gewinnen konnte. Ihre ersten beiden Romane hatten in der damals sehr virulenten Psychiatrie- auch außerhalb der literarischen Welt ein deutliches Echo gefunden. Mit ihrem Fokus auf die Immunisierungsstrategie der Psychoanalyse war Claudia Erdheim mitten drinnen und wurde zu einschlägigen Aufsätzen und der Teilnahme an einer Club 2 Diskussion eingeladen, bei der sie ihre Standpunkte mit der gewohnten Konsequenz vertrat.

 

Obwohl sie bis 2005 an der Universität Wien Vorlesungen über Logik hielt, war klar, dass sie sich nicht bei einer philosophischen oder psychologischen Kontroverse aufhalten, sondern ihre literarische Entwicklung weiter treiben würde. Die Romane „Ohnedies höchstens die Hälfte“ und „Die Realitätenbesitzerin“ nahmen das Universitätsangehörigen- und Immobilienverschiebergeflecht aufs Korn. In ihrem ersten Erzählband, der danach erschienen ist, taucht mit „Der Erdheimstammtisch“ die Familie wieder auf. Während einer Szene sind Claudia, genannt Clautschi, mit ihrem Mann Siegfried, genannt Schweinchen, ihre Schwester Maria, genannt Itschi, mit ihrem Mann Fafnir und ihrer Tochter Diana, genannt Schnecki, die Mutter der beiden Schwestern Tea, genannt Grandy, und Fafniers Mutter Käthe anwesend: „Hast du jetzt Urlaub, Maria? Ja. Wie lang hast du Urlaub? Eine Woche; aber wir bleiben nicht so lang in Wien; wir wollen noch nach Sizilien fahren. Warum nach Sizilien? Die Käthe hat sich immer noch nicht hingesetzt und steht mitten im Zimmer mit vom Körper weggespreizten Armen, was sie für vornehm hält. No so, weil es dort warm ist, singt die Itschi, schiebt die etwas zu dick geratene Unterlippe vor und kommt sich gut vor. Wann wollt ihr fahren? Zu Silvester wahrscheinlich. Ich hab für Silvester schon einen Truthahn bestellt. Dann bestell ihn wieder ab.“1

 

Vermutlich ist es Käthe, die den Truthahn bestellt hat und vermutlich ist es ihre Schwiegertochter Maria, die sie davon zu überzeugen versucht, ihn wieder abzubestellen. Aber ebenso gut könnte jeder andere aus der Runde fragen, wann sie fahren wollen und der knappe Ratschlag, den Truthahn abzubestellen, könnte sehr gut von Grandy kommen. Immer wieder kommt es vor, dass jemand Erdheims Technik, Gesprächsfetzen um den Kopf des Lesers schwirren zu lassen, ohne sie genau ihren Rednern zuzuordnen, - und der man Verfremdungsintentionen genauso gut wie Hyperrealismus unterstellen könnte, die aber meiner Vermutung am ehesten ihrem Stil der größtmöglichen Verknappung zuzurechnen ist, - für eine zufällige Unaufmerksamkeit hält. Darüber hat Erdheim schon in den Herzbrüchen gespottet, als die Ich-Erzählerin einen Metakommentar zum Kommentar ihrer Analytikerin liefert: „Meine Geschichte findet sie ganz nett. Aber man weiß gar nicht, wer jetzt eigentlich redet. Richtig empört ist sie darüber. Kleinkarierte Deutschlehrermentaliät.“

 

Mit der Deutschlehrermentalität sollte sich Claudia nie anfreunden. Schon den Jugendfreund Reinhardt Priessnitz, von dem es am Schluss ihres ersten Romans heißt: „Ich mach Matura und er will Dichter werden.“ hat sie für seine Souveränität gegenüber dieser Mentalität bewundert: „Der Dieter schreibt alles klein. Der Enzensberger schreibt ja auch alles klein. In der Schule hat er sogar einmal in einer Schularbeit alles klein geschrieben. Das trau ich mich nicht.“ Zum regelrecht sinnlichen Genuss wird die Klinge ihrer Kritik, wenn sie in der Titel gebenden Geschichte ihres ersten Erzählbandes den Universitätsprofessor „Karli“ auf eine Gourmetreise schickt, während der dieser unter dem ständigem Prüfungsstress steht, seine Kultiviertheit unter Beweis zu stellen. Als Bonus können Leser und Leserinnen dabei das Wissen um Ausdrücke und Usancen der Haubenküche mitnehmen. Privat habe ich Claudia nicht als abgehobene Haubentesterin sondern als exzellente Gastgeberin kennen gelernt. Besonders erinnere ich mich an einen Abend, an dem Kollegen aus der Literatur, vom Institut, Mieter des Hauses und russische Intellektuelle, die sie im Zuge ihrer Recherchen im Baltikum, Russland und der Ukraine kennen gelernt hatte, bei ihr zusammenkamen. Das Gespräch drehte sich um General Lebed, der einige Jahre später bei einem Hubschrauberabsturz ums Leben kommen sollte, sodass für alle Zeiten offen bleibt, ob eher die besorgten oder die Hoffungsstimmen berechtigt waren. Hans-Dieter Klein ist mir im Gedächtnis geblieben, Helmut Peschina und Monika Meister, am deutlichsten aber die göttliche Kruste von Claudias Schweinsbraten. Nur wer diese je kennen gelernt hat, kann ermessen, was für eine monströse Absurdität Claudia widerfuhr, als sie mehrere Jahre krankheitsbedingt auf eine überaus strenge Diät angewiesen war.

 

Der zweite Erzählband „Virve“ hatte den Beginn von Claudia Erdheims Interessensverlagerung in Richtung osteuropäischen Alltags und seiner Geschichte, insbesondere des galizischen Judentums, aus dem die mütterliche Linie ihrer Familie stammt, markiert. Die damit verbunden häufigen und teilweise mehrere Monate in Anspruch nehmenden Auslandsaufenthalte haben sie auch bewogen, mir die Weiterführung der von ihr begründeten und zehn Jahre lang geleiteten Sommerlesereihe des Literaturkreises Podium im Café Prückel anzubieten. Aus diesen Reisen entstanden aktuelle und dokumentarische Bildbände, eine Radioarbeit sowie das Symposion zu Karl Emil Franzos, vor allem aber bereiteten sie Claudia Erdheims bislang letzten Roman „Längst nicht mehr koscher“ vor, der dort endet, wo „Bist du wahnsinnig geworden?“ begonnen hat. Es ist die Geschichte einer verzweigten jüdischen Familie, die aus dem galizischen Stetl nach Wien und Polen auswandert, wo ein Teil dem Holocaust zum Opfer fällt und letztendlich Tea Erdheim als letztes Glied übrig bleibt und nach dem Ende des zweiten Weltkrieges ihre Tochter Claudia zur Welt bringt. Dieser Roman, mit dem Claudia Erdheim allein durch seine Länge, aber auch durch die historiographische Dimension und vor allem durch die wechselnden Blickpunkte der auktorialen Erzählerinnenstimme ästhetisch neues Terrain beschritten hat, schließt ideell an ihr bisheriges Werk an. Ich habe mit Befriedigung festgestellt, dass sie für das Textbeispiel in diesem Heft eine Stelle ausgewählt hat, die ich zitieren wollte. Und zwar jene, als in einer Erdölgrube von Moses Hersch die Leiche eines Arbeiter entdeckt wird. Allein die präzise Darstellung dieses – fiktiven - Geschehnisses impliziert bei aller Berücksichtigung der dazugehörenden Sachzwänge Kritik an Ausbeutungsverhältnissen. Der Weichzeichner kommt auch bei diesem Buch nicht zur Anwendung.

 

Als ich Claudia Erdheim kennen gelernt habe, habe ich mich in meiner eigenen Arbeit noch ganz auf Lyrik beschränkt und sie sagte mir glatt: „Da kann ich dir nix dazu sagen. Das ist nicht mein Metier.“ Claudia Erdheim reist, forscht, unterrichtet, schreibt Romane, Erzählungen und Essays, fotografiert und organisiert, aber eines tut sie nicht: Gedichte schreiben. Und weil sich der Vorstand des Podium einmal darauf festgelegt hat, dass die Porträt-Bände der Lyrik vorbehalten sind, wollen wir ihr auf diese Art im Herbst-Heft 2010 ein Dankeschön für ihre lange, engagierte und andauernde Mitarbeit ausdrücken.

 

Ich kann nur vermuten wie Claudia diesen Umstand kommentieren wird: „ничего“ („Zu den unübersetzbaren Wörtern des Russischen gehört „nitschewo“. Eigentlich heißt es einfach „nichts“. Aber es kann die Bedeutung von „mach dir nichts draus“, „schon gut“, „spielt keine Rolle“, „so la la“ annehmen …“ schrieb Thomas Rothschild im Vorjahr im Kulturmagazin titel.)

 

Diese Redewendung habe ich oft von ihr gehört. Sie bewahrt ihre Kritik vor der Rechthaberei.

 

1 Claudia Erdheim: Karlis Ferien, Löcker Verlag , Wien 1994, S 57 ff

 

Eingestellt von claudia erdheim 

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