Bist du wahnsinnig geworden?

Rezensionen


GRISCHKA VOSS, Salzburger Nachrichten, 7. April 2018

„Irres hat mich fasziniert“

Kindheit in Wien.

Claudia Erdheim, Tochter einer Psychoanalytikerin, erzählt. 

„Mit 14 Jahren habe ich das Lehrbuch zur Psychiatrie studiert, das Irre hat mich schon fas- ziniert“, sagt die 72-jährige Claudia Erdheim lachend. Als Tochter der Psychoanalytikerin und Kommunistin Tea Genner-Erdheim verbrachte sie eine ungewöhnliche Kindheit im Nachkriegs-Wien. Über den Vater, den kommunistischen Widerstandskämpfer und Politiker Laurenz Genner, schwieg die Mutter Tea ebenso wie über andere Kriegserlebnisse. Erst nach deren Tod erfuhr Claudia Erdheim, dass sie den Vater durch die Verabreichung einer nicht letalen Dosis Luminal vor der Gestapo gerettet hatte.

 

„Tea solln wir zu ihr sagen, und nicht dieses primitive Mama (...) Später sagen wir Grandy zu ihr; das hab ich mir ausgedacht; sie könnte ja meine Großmutter sein; die Leute glauben das eh meistens; gern hört sie das nicht; aber alle sagen jetzt Grandy zu ihr.“ So schreibt Claudia Erdheim in ihrem autobiografischen Roman „Bist du wahnsinnig geworden?“, der vom Czernin Verlag neu aufgelegt ist. Entstanden war dieses Buch durch eine Psychoanalyse und sorgte bei seinem Erscheinen für einen Skandal in der Welt der Psychoanalytiker. Ehrlich, tragisch-komisch ist der Blick der Schriftstellerin auf ihre Kindheit mit ihrer älteren Schwester und der stets alles wertenden Mutter in einer großen, kalten Wiener Wohnung im 18. Bezirk, mit teilweise verschlossenen Zimmern, die mit den Gründerzeitmöbeln der Großeltern vollgeräumt waren. Die „erlebte Rede“ sei ihre Sprache, sagt Claudia Erdheim. Das hat dazu geführt, dass man in ihren Büchern das Gefühl bekommt, unmittelbar dabei zu sein, im Kopf der jeweiligen Person zu sitzen.

 

„Sonntag früh wird der Erlauchten das Frühstück ans Bett serviert; die Kinder ha- ben selbstverständlich schon gefrühstückt.“ So schildert sie die Wochenenden mit ihrer Mutter Tea. Und weiter: „Die Große kocht Kaffee; die Kleine richtet den Striezel mit Marmelade her. So gern hat sie das, wenn sie das Frühstück ans Bett kriegt; das ist so gemütlich. Und nachdem sie behaglich gefrühstückt hat, kriechen wir zu ihr ins Bett, links die Kleine, rechts die Große, ihre Arme legt sie um unsere Schultern und glücklich sagt sie: Rechts ein Kindi, links ein Kindi, beide g’hörn sie mir, mir, mir.“

 

Den Kommunismus der in bürgerlichen, jüdischen Kreisen aufgewachsenen Mutter bezeichnet sie als „Schnapsidee“, dennoch habe er sie beeinflusst. „Als Kind war ich in den Ferienlagern der jungen Garde, habe Kampflieder gesungen, bekam fünf Mahl- zeiten, das hat mich sozial geprägt“, gibt Erdheim zu. Ihr Interesse an jüdischer Geschichte zieht sich durch ihr Werk. In „Längst nicht mehr koscher“ begab sie sich auf die Spuren ihrer aus Galizien stammen- den Familie. Es ist die Geschichte von Stammvater Moses Hersch und seiner Frau Esther, einer aufgeklärten jüdischen Familie mit fünf Söhnen. Sie besaßen eine Erdöl- raffinerie, Gruben und eine Brauerei. Vier der Söhne zogen Ende des 19. Jahrhunderts nach Wien, darunter der Kaufmann Oskar Erdheim, Großvater Claudia Erdheims.

 

Ihm gehörte das Haus, in dem die Schriftstellerin aufwuchs und bis heute lebt. Die Familie wurde Opfer des Nationalsozialis- mus, wie durch ein Wunder überlebte Claudias Mutter Tea in Wien. Vier Jahre recher-chierte Erdheim für die Familiengeschichte, fand Fotografien aus Galizien, die sie auch in ihrem Bildband „Das Stetl“ verwendete, Schulbücher von Großvater und Großonkel in der Nationalbibliothek, lernte Polnisch, studierte alte hebräische Zeitungen, entdeckte die Tagebücher ihrer Mutter. All dies trug zum Verständnis bei und ist Grundlage für ein „Universum History“ über die Erdheims; Drehbeginn ist im Juni.

 

Claudia Erdheim liebt das Reisen, am liebsten allein. Sie verweilt gern lang in der Fremde, um Menschen und Seele des Landes kennenzulernen. „Dass ich tragische Situationen ins Lustige transponieren kann, ist meine literarische Begabung“, sagt Erdheim. „Ich finde oft Sachen komisch, die andere gar nicht komisch finden.“

 

Während sie das sagt, sitzt sie fröhlich am selben Gründerzeit-Tisch, an dem sie als Kind manches Mal mit Schwester und Mutter bis spät in die Nacht absitzen musste. Das ehemalige Bassena-Haus ließ sie renovieren – auch dies hat sie in einem Buch („Die Realitätenbesitzerin“) verarbeitet. Viele der großelterlichen Möbel hat sie noch, die früher voll geräumte verglaste Veranda mit Jugendstil-Fenstern zählt heute zu ihren Lieblingsplätzen.

 

Als die Schwester nach dem Tod der Mutter vorgeschlagen habe, das Haus zu verkaufen, sei sie „fast wahnsinnig geworden“, erzählt Claudia Erdheim lächelnd. Soeben hat sie einen Artikel über die Absurdität der österreichischen Geschichte anhand des Hauses Taborstraße 21A beendet, dessen jüdische Bewohner ab 1938 alle deportiert wurden. Danach zogen Nazis in die Wohnungen, mussten diese aber 1945 wieder früheren Eigentümern zurückgeben. Nachdem das Wohnungsanforderungsgesetz 1955 abgelaufen war, mussten jedoch die Opfer wieder ausziehen und die Wohnungen ehemaligen Nationalsozialisten überlassen.