Claudia Erdheim: Das Stetl.
Galizien und Bukowina 1890-1918.
Wien: Album Verlag für Photographie 2008.
ISBN 978-3-85164-167-7, EUR 22,00.
(Miriam Y. Arani)
Fotografien erlauben begrenzte Einblicke in die Vergangenheit – die umso wertvoller sind, wenn andere Möglichkeiten der Erinnerung erschwert oder gar verschlossen sind. Claudia Erdheim nutzte diesen Vorzug des seit 1839 bekannten Bildgebungsverfahrens dazu, das Spektrum der visuellen Erinnerungen an die vom NS-Regime ausgelöschten jüdischen Stetl in Osteuropa zu erweitern. Angeregt durch den Kontakt zum Jüdischen Museum in Wien versuchte sie, die fotografischen Hinterlassenschaften ihres Großvaters um weiteres Bildmaterial zu ergänzen. Zu diesem Zweck recherchierte sie im Gebiet der heutigen Westukraine in den dortigen Archiven, Bibliotheken und Museen und kaufte bei lokalen Händlern und Sammlern alte Fotografien oder Reproduktionen davon.
Die von Claudia Erdheim in dem Bildband „Das Stetl“ präsentierten Fotografien stammen vorwiegend aus dem Osten Galiziens in der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert. Der Begriff „Stetl“ bezeichnet keinen geografischen Ort, sondern die zahlreichen, ehemals von Juden bewohnten Dörfer, Kleinstädte und Stadtteile im Osten Europas, die im späten Mittelalter entstanden, als Boleslaw III. den vor der Verfolgung in Westeuropa fliehenden Juden die Ansiedlung im polnischen Piastenreich gestattete. Im Zuge der polnischen Teilungen fiel Galizien Ende des 18. Jahrhunderts an die österreichisch-ungarische k.u.k. Monarchie. Die bereits im Titel vorgenommene geografische Eingrenzung weist aus, dass sich Claudia Erdheims Bildband ausschließlich auf das Gebiet der beiden ehemaligen Kronländer der k.u.k. Monarchie Galizien und Bukowina mit den Hauptstädten Lemberg (heute Lwiw, Ukraine) und Czernowitz (heute Tscherniwzi, Ukraine) beschränkt.
In ihrem Buch „Das Stetl“ versammelt Claudia Erdheim visuelle Spuren jüdischen Lebens aus einem Gebiet, zu dem bisher nur wenige fotografische Bildquellen publiziert wurden. Im Osten Galiziens herrschten oft polnische Großgrundbesitzer über ukrainische Bauern und als die präsentierten Fotografien entstanden, befand sich das jüdische „Stetl“ in einem tiefgreifenden Umbruchsprozess. Etwa eine Viertelmillion galizische Juden wanderten in westlicher Richtung aus. Die k.u.k. Monarchie ließ die Kronländer Galizien und Bukowina wegen der Rohstoffvorkommen erschließen. Ende des 19. Jahrhunderts wurde in Boryslaw nahe Drohobycz (Drohobytsch) Öl gefunden: zahlreiche Ölgesellschaften entstanden, die Bevölkerung wuchs schnell. Moses Hersch Erdheim, dem Urgroßvater von Claudia Erdheim, gelang in dieser Zeit der Aufstieg zum Erdölmagnaten, so dass er seinen beiden Söhnen ein Studium in Wien finanzieren konnte (vgl. Abb. 22, 23).
Sishe (Siegmund) Erdheim, einer der beiden Söhne des Erdölunternehmers, fotografierte als Erwachsener im Urlaub die Welt, die er aus seiner Kindheit kannte (Abb. 12-22). Vermutlich sah er wie andere seiner Zeitgenossen, die nun in den großen Städten lebten, mit einem etwas verklärenden Blick auf das Leben im „Stetl“ zurück: eine Welt, in der Jiddisch die Alltagssprache war und die religiöse Tradition eine vergleichsweise große Rolle spielte. Doch Sishe Erdheims Aufnahmen vom jüdischen Boryslaw im Jahr 1910 sind keineswegs nostalgisch, denn sie protokollieren die soziale Differenzierung der galizischen Juden im Zuge der Industrialisierung sehr genau. Die Unterschiede in der Kleidung und Frisur von jüdischer Unternehmensleitung und jüdischen Arbeitern sind auf den fotografischen Aufnahmen unverkennbar. Der in seinem sozialen und kulturellen Umfeld dargestellte Erdölunternehmer Moses Erdheim erscheint visuell nicht als ein „Kapitalist“, sondern vor allem als ein „Patriarch“. Dass die jüdische Bevölkerung der galizischen „Stetl“ vorwiegend aus bescheidenen Handwerkern, Arbeitern und kleinen Händlern bestand, lassen die anderen Aufnahmen in der Veröffentlichung erahnen.
Die in dem Bildband präsentierten Aufnahmen geben in ihrer Gesamtheit nur wenig von der jüdischen Gesellschaft im „Stetl“ preis. Nicht alle Abbildungen in dem Büchlein, die Menschen zeigen, betreffen die jüdische Geschichte im engeren Sinn, was die Herausgeber auch ausdrücklich zu bedenken geben. Leider erwähnen sie nicht, dass die meisten der fotografisch Dargestellten anhand ihres Aussehens weder einer Nation noch einer Religion zugeordnet werden können. Als Juden zu erkennen geben sich nur Jungen mit Schläfenlocken (Abb. 45, 72) und die oft im Bild festgehaltenen vollbärtigen Männer mit mehr oder weniger bürgerlicher oder proletarischer Kopfbedeckung (Hut oder Mütze). Visuell am auffälligsten – und deshalb wohl auch besonders häufig fotografiert – wurden Chassidim in Festtagskleidung mit Gebetsmantel und meist pelzverbrämtem Hut (Abb. 30, 40, 58 und 78).
Die Einleitung des Verlages zur Erläuterung des historischen Kontextes, in dem die in dem Buch publizierten Aufnahmen entstanden, ist sicher sinnvoll. Doch der damit verbundene Versuch, Besonderheiten der visuellen Darstellungsweise auf eine jüdische Identität und Kultur zurückführen zu wollen, obwohl es sich sehr wahrscheinlich um allgemeinere Erscheinungen im gesellschaftlichen Leben der damaligen Zeit handelte, wirkt nicht nur überflüssig, sondern auch irreführend. Speziell die verlagsseitigen Spekulationen über die Gebrauchsweisen der Fotografie in den jüdischen Siedlungsgebieten Osteuropas erscheinen allzu konstruiert, da das Fotografieren sich generell in den industrialisierten Städten schneller verbreitete als in den ländlichen Gebieten. Es waren damals – unabhängig von der Religion oder Nationalität – vor allem die wohlhabenden Städter, die das Leben der armen Landbevölkerung fotografierten. Wer sich über den Gebrauch des Mediums Fotografie in der jüdischen Gesellschaft Osteuropas im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert informieren möchte, ist daher sicherlich mit dem Standardwerk von Lucjan Dobroszycki und Barbara Kirshenblatt-Gimblett besser beraten (Image before my Eyes. A Photographic History of Jewish Life in Poland before the Holocaust. New York: Schokken Books 1977).
Außer den Aufnahmen von Sishe Erdheim haben insbesondere die in dem Bildband präsentierten historischen Fotoaufnahmen von Synagogalbauten einen hohen Quellenwert. In den leicht zugänglichen Übersichtsdarstellungen zu osteuropäischen Synagogen findet sich in der Regel nur sehr wenig Bildmaterial zur jüdischen Sakralarchitektur Galiziens und der Bukowina. In dieser Hinsicht stellen die in „Das Stetl“ publizierten fotografischen Aufnahmen prominenter Synagogen im östlichen Galizien und in der nördlichen Bukowina eine wertvolle Ergänzung bisheriger Publikationen dar. Das Buch enthält Aufnahmen von jüdischen „Tempeln“ in der nördlichen Bukowina, beispielsweise in Wiznitz (Abb. 71-72) und in der Hauptstadt des Kronlandes Czernowitz (Abb. 73-75). Die meisten dieser Aufnahmen mit architekturhistorischem Quellenwert stammen aus Ostgalizien. Hierzu zählen beispielsweise Innen- und Außenaufnahmen der Synagoge von Przemysl (Abb. 6-8) und Ansichten mehrerer Lemberger Synagogen: der Großen bzw. Alten Synagoge (Abb. 31), der auch Taz-Synagoge genannten Synagoge „Goldene Rose“ (Abb. 34) und der Anfang des 19. Jahrhunderts errichteten chassidischen Synagoge (Abb. 28-29). Hervorzuheben sind insbesondere die in dem Bildband publizierten Aufnahmen von Synagogen in den in Vergessenheit geratenen Städten Brody und Drohobycz (beide heute Ukraine). Die Erdölunternehmer von Boryslaw lebten in der Stadt Drohobycz und Juden stellten die Hälfte der Einwohner, deren Zahl sich in der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert verdoppelte. Der Wohlstand und die Größe der jüdischen Gemeinden schlug sich auch in der lokalen Sakralarchitektur nieder, die mit einer Außenansicht der Neuen Synagoge und Innen- und Außenansichten der Alten Synagoge – dem größten jüdischen Sakralbau des Kronlandes Galizien – in dem Buch repräsentiert werden (Abb. 9-11). Historische Aufnahmen von Synagogen in Brody – der „Alten“ und der „Neuen Schul“ (Abb. 45-52) – erinnern an den vergangenen Glanz einer Stadt, die seit Ende des 18. Jahrhunderts als Freihandelszone eine hundertjährige wirtschaftliche Blüte erlebte und im 19. Jahrhundert ein Zentrum jüdischer Bildungskultur in deutscher Sprache war.
Neben den Vorzügen der Veröffentlichung müssen auch einige Mängel Erwähnung finden: In „Das Stetl“ wurde ausschließlich die Schreibweise der Ortsnamen nach dem Wiener Allgemeinen Ortslexikon von 1906 benutzt, so dass die Suche nach den aufgeführten Orten auf heutigen Karten erschwert ist. Dem Wechsel der Ortsnamen im Zeitverlauf wurde leider wenig Aufmerksamkeit gewidmet. Bedauerlich ist auch die visuell ein wenig zu dicht gedrängte Darbietung der historischen Fotografien, die ihnen viel von ihrem Reiz im Einzelnen nimmt. Denn insgesamt gesehen hat Claudia Erdheim der Öffentlichkeit eine durchaus gewissenhafte und kompakt kommentierte Zusammenstellung schwer zugänglicher fotografischer Bildquellen aus der Zeit der k.u.k. Monarchie in einem heute westukrainischen und ostpolnischen Gebiet vorgelegt.
Heft 3 | 2008 © Medaon – www.medaon.de
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