Vilma Steindling

Rezension

Galina Hristeva

 

„An jedem Todesurteil stirbt man nicht.“ 

 

„Juden zehn Schritte vom Leib!“, hörte die 1919 in Wien geborene Vilma Steindling von ihren Lehrern schon an der Hauptschule. Ohne Eltern im jüdischen Waisenhaus in Wien aufgewachsen, war ihr der Antisemitismus – „die große Abneigung“, wie ihn Maximilian Gottschlich nannte – ein lebenslanger Begleiter. 

 

Im jüdischen Lehrlingsheim in der Malzgasse 7 im 2. Wiener Bezirk nach der Hauptschule lebend, wird Vilma Steindling – sie wäre lieber Krankenschwester geworden, war aber mit vierzehn Jahren noch zu jung für die Ausbildung – ein Handwerk erlernen. Aus der Modistin „wider Willen“, die keinen Sinn für Hüte, dafür aber einen starken Gerechtigkeitssinn hat. Wird schnell „eine der wenigen österreichischen Widerstandskämpferinnen“.

 

Das von Vilma Steindlings zweitältester Tochter Ruth und von Claudia Erdheim, einer ausgewiesenen Kennerin jüdischer Schicksale (siehe ihre Romane Längst nicht mehr koscher und In der Judenstadt), geschriebene und mit vielen Dokumenten sowie Fotos ausgestattete Buch Vilma Steindling. Eine jüdische Kommunistin im Widerstand zeichnet das Leben einer starken, einer erstaunlichen Frau nach. Nach den Interviews mit Vilma Steindling, welche die Historikerin Irene Etzersdorfer und die Psychoanalytikerin Elisabeth Brainin in den 1980er Jahren geführt haben, bringt nun das vorliegende Buch Vilma Steindlings Biografie zur Abrundung. 

 

Das bewegte und bewegende Leben der Vilma Steindling, geborene Geiringer, beginnt unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg und endet 1989, als sie siebzig ist. Dazwischen liegen Ereignisse, die an Dynamik, Spannung, aber auch an Tragik kaum zu übertreffen sind. Als Mitglied des Kommunistischen Jugendverbands geht Vilma 1937 nach dem Verbot dieser Organisation nach Paris. Dort schließt sie sich der Résistance an und engagiert sich in der „Mädelarbeit“. Sie ist „jung, fröhlich und voll Lebenslust.“ 

 

Am 3. Dezember 1942 wird Vilma in Paris verhaftet und der Gestapo vorgeführt. Es folgen Verhöre, bei denen sie den Nazis ausgesprochen tapfer Paroli bietet, anschließend wird sie ins Gefängnis für politische Gefangene in Fresnes überführt. Vor der Verurteilung zu zweieinhalb Jahren Zuchthaus und zu zweieinhalb Jahren Verwahrung wegen „Zersetzung der Wehrmacht“ meint Vilma voller Zuversicht: „Das ist mir wurscht, wie viele Jahre Sie mir geben, wenn der Krieg aus ist, da gehe ich nach Hause.“ 

 

Vilmas Leidensweg endet aber nicht so schnell und nicht in Fresnes. Nach Fresnes und nach Haftzeiten in der Festung Romainville, in der „Petite Roquette“ und im Sammel-Durchgangslager Drancy muss sie erst Auschwitz und Ravensbrück hinter sich bringen. In Auschwitz bleibt sie vom 4. September 1943 bis zum 17. Jänner 1945. Ein schrecklicher, dreitägiger Todesmarsch, dem eine Höllenfahrt in offenen Güterwaggons folgt, führt sie dann mitten in einem bitterkalten Winter nach Ravensbrück. Dort bleibt sie bis April 1945, als sie im Zuge einer von Graf Bernadotte geleiteten Rettungsmission als „Französin“ vom Roten Kreuz nach Schweden transportiert wird. Auf dem Umweg über Paris kehrt sie schließlich im Herbst 1945 nach Wien zurück, um ein Österreich vorzufinden, das „weitgehend in Trümmern“ liegt.       

Wieviel Mut und Überlebenswille dazu gehörten, die langen, mehr als harten Jahre der Haft zu überstehen, zeigt das Buch äußerst deutlich. Ruth Steindling und Claudia Erdheim haben jedoch noch mehr zu bieten. Die zweite Hälfte ihres Buches widmen sie den Traumata, welche die Haftzeit in Vilma Steindling hinterlassen hatten. Während dieser Schreckenszeit hat sie viele Freunde sowie ihren geliebten Lebensgefährten Adi (Arthur Kreindel) verloren. Adi wurde am 28. März 1945 in Dachau ermordet. 

 

Nach 1945 kämpft Vilma um einen Neuanfang. Schwierige Wohn- und Lebensverhältnisse in den ersten Nachkriegsjahren, Probleme in ihrer Ehe mit Adolf Steindling und die Enttäuschung über die KPÖ, die kein Interesse für KZ-Überlebende zeigt, belasten sie. Als Fürsorgerin findet sie dennoch einen Weg, um sich im Nachkriegsösterreich sozial zu engagieren. Immer wieder stößt die ehemalige KZ-Insassin aber auf Unverständnis und Misstrauen, sodass sie sich in den 1950er Jahren die in Auschwitz tätowierte Nummer wegoperieren lässt: „um endlich nicht mehr den Blicken und den unangenehmen Fragen ausgesetzt zu sein.“  

 

Vilma Steindling hatte Recht: „An jedem Todesurteil stirbt man nicht.“ Sie hat überlebt und konnte nach dem Krieg ein Leben in Frieden und Würde führen. Wie aus den Aussagen und Materialien hervorgeht, verstand sie sich gern als Heldin. Besonders vor ihren Freunden sprach sie „sehr viel über ihre politischen Aktivitäten von damals, über ihre Verhaftung, über das Gefängnis Fresnes, über die Festung Romainville, über Drancy, über die Deportation, über Auschwitz, den Todesmarsch nach Ravensbrück und ihren Aufenthalt dort.“ Von der Haft und den schlimmen Erfahrungen bleibt Vilma aber lebenslänglich gezeichnet, und es ist das besondere Verdienst Ruth Steindlings und Claudia Erdheims, diesen Faden aufgegriffen und das Leben ihrer Protagonistin von dieser Warte aus problematisiert zu haben. 

 

Mit Hilfe der Erkenntnisse Elisabeth Brainins sowie eigener Beobachtungen und Erfahrungen Ruth Steindlings gelingt es den beiden Autorinnen, die heroische Perspektive zu durchbrechen und Einblick in die Seele einer vom Nazi-Regime schwer gebeutelten, geschädigten Frau zu gewähren. Vilmas „exzessivem Erzählen“ eignet „etwas Penetrantes“ an, ihr Humor erweist sich oft nur als eine „Verzerrung ins Lustige“ ihrer Traumata. Schuldgefühle, überlebt zu haben, fehlen auch nicht. Das Leben, die Eindrücke und die Empfindungen ihrer Kinder Elisabeth und Ruth sowie ihrer Enkelkinder vervollständigen das Bild und tragen zudem den Stempel einer transgenerationalen Traumatisierung. 

 

Steindlings und Erdheims Buch sprengt den Rahmen der Biografie und malt ein breiteres historisches, gesellschaftliches und politisches Panorama. In seiner sachlichen, präzisen und die Ereignisse doch anschaulich und einfühlsam erzählenden Art, gibt es eindrücklich die Atmosphäre Wiens nach dem Ersten Weltkrieg, den erstarkenden Antisemitismus, die Ankunft der Nazis, die Tätigkeit der KPÖ, das Leben in den Lagern wieder. Wir treten mit Vilma Steindling auf ihrem Weg durch diese Orte des Schreckens dem berüchtigten Dr. Mengele gegenüber, erleben mit ihr viel Grausamkeit und zugleich viel Menschlichkeit. Vilma überlebt dank ihrer Tapferkeit und moralischer Kraft, doch auch dank vieler „Tricks“: So muss sie sich als Biologin ausgeben, um in einem von Himmler geleiteten „Pflanzenzuchtkommando“ Löwenzahn sammeln zu dürfen, oder immer wieder die „Depperte“ spielen. Eine „bessere Arbeit“ bekommt man im Lager nur mit Hilfe von Genossen oder wenn man Dinge „organisiert.“ Steindlings und Erdheims Fazit über das Zusammenleben in den Lagern lautet in Anlehnung an Hermann Langbeins Menschen in Auschwitz: „Es gab zwar Hilfsbereitschaft und Kameradschaft im Lager, aber auch hässliche Intrigen.“ 

 

Dem Buch von Ruth Steindling und Claudia Erdheim mangelt es nicht an weiteren kritischen Akzenten – sei es die deutliche Kritik an der Rolle der KPÖ nach dem Krieg, am insgesamt spärlichen Widerstand gegen das Nazi-Regime in Österreich oder an dem Selbstbild der Alpenrepublik als „Opfer“ der nationalsozialistischen Diktatur, am Fehlen einer „anhaltenden Entnazifizierung“. Antisemitische Tendenzen nach 1945 kommen ebenfalls zu Wort. Aussagekräftig ist z.B. die Reaktion einer Mitschülerin von Vilmas Tochter Elisabeth nach einer Israelreise: „Aber dort sind doch lauter Juden.“ Auch der 1981 von zwei Palästinensern verübte Anschlag auf die Synagoge in Wien weckt alte Ängste auf, wie Ruth Steindling bekundet: „Seit dem Anschlag auf die Synagoge in Wien ist wieder an bisschen das Gefühl da, verfolgt zu werden. Dass es vielleicht wieder uns trifft. Konsequent denke ich das nicht wirklich durch. Eher das Globale, dass in Europa demnächst etwas passieren wird. Das macht mir Angst.“   

 

Vilma Steindlings Schicksal zeigt die „Zerbrechlichkeit der Freiheit“ (Fritz Stern) und registriert seismografisch den damit verbundenen „Mut-Angst-Pegel“, wie ihn Vilmas Enkelin Daniela nannte. Die „wandelnden Leichen“ von Auschwitz auf der einen Seite und Vilma Steindlings mutiger Widerstand auf der anderen sind eine Anklage gegen all diejenigen, die eine „Rasse“ erfinden mussten, „damit sie ausgesondert, beraubt, vertrieben, ausgemordet werden konnte“, so der Politikwissenschaftler Anton Pelinka im Nachwort zum Buch. Ruth Steindlings und Claudia Erdheims Buch beschwört die „erdrückenden Schatten der Vergangenheit“ (Pelinka) noch einmal herauf, um uns von ihnen zu befreien.  

 

 

Illustrierte Neue Welt, Ausgabe 2/2017, S 15